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Lab. Jahrbuch 2001/02 für Künste und Apparate

432 Seiten, 83 teils ganzseitige Abb. in S/W und Farbe, 21 x 14,8 cm, Klappenbroschur, Fadenheftung. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2002.

ISBN 3-88375-437-7

Hrsg.: Kunsthochschule für Medien Köln mit dem Verein der Freunde der Kunsthochschule für Medien Köln.


Redaktion: Thomas Hensel, Hans Ulrich Reck, Siegfried Zielinksi.

Editorial
In den Künsten, die in unterschiedlichen Materialformen und mit diversen Strategien mit der ästhetischen Strukturierung von Zeit befasst sind, gibt es zwei Protagonisten, die auch durch ihre sprachliche Formulierungskunst herausragen. Für den kinematographischen Film und seine Geschichte(n) stellte Jean-Luc Godard im ersten Teil seiner Histoire(s) du cinéma die unverschämte Forderung auf: »Es ist an der Zeit, dass das Leben zurückgibt, was es dem Kino gestohlen hat.«1 Nam June Paik, in dessen künstlerischer Theorie und Praxis die Zeitmodi fernöstlicher und westlicher Kulturen kollidieren und zu widersprüchlichen Gebilden verknüpft werden, prägte zur Kontextualisierung der ersten audiovisuellen Zeitmaschine Videorecorder die Phrase: »There is no rewind button on the betamax of your life.«2
In beiden provozierenden Phrasen, in derjenigen des passionierten Kinomachers wie derjenigen des Pioniers elektronisch vermittelter Performanz, vibriert dieselbe Spannung. Die Zeit der Maschinen und die Lebenszeit differieren und streiten miteinander. Paik stellt die in Form von technischen Fragmenten reversible Zeit des Videoapparats einer irreversiblen Zeit des Lebens gegenüber. Godard treibt diesen Gedanken durch eine Umkehrung auf die Spitze. Die Maschinenzeit ist bei ihm bereits in die Lebenszeit eingegangen und hat sie zu durchdringen begonnen. Das Leben, worunter er die Gesamtheit der alltäglichen Prozesse versteht, hat das Kino ausgesaugt und von seiner Kraft profitiert. Jetzt möge es gefälligst die Gegenleistung erbringen.
In der Phase der Musealisierung des traditionellen Kinematographischen soll der Profiteur in verschwenderischer Großzügigkeit zur Re-Vitalisierung der verfügbaren Corpi beitragen. Godard führt in seinen Histoire(s) du cinéma selbst eine Variante vor, wie dies aussehen kann. In einer gigantischen Montage und Collage von Fragmenten, die dem Kino entnommen sind, entsteht in elektronischer Form die Erinnerungsarbeit eines leidenschaftlichen Filmemachers als ein unendlich variierbares Archiv von Gesten, Gesichtern, Bewegungen, Artefakten, Beziehungen und Rhythmen, die außerhalb der Apparate nicht existieren können. Wie in Chris Petits Film über den Filmkritiker und Maler Manny Farber, Negative Space3, ist die in feinste Partikel zerlegbare und neu zusammensetzbare Zeit für ein solches Verfahren und eine solche Ästhetik unabdingbare Voraussetzung. Das elektronische Medium wird zu einer Möglichkeit, mit den aufgehobenen Mikrostrukturen filmischer Zeit zu arbeiten, Chronologie und Augenblick in der Wiederlektüre der Filmgeschichte in ein neues Spannungsverhältnis zu setzen.
Auch ihre Zeit hat ein Verfallsdatum, aber Maschinen können länger leben. Der Computerwissenschaftler und Ingenieur Danny Hillis, der die massiven Parallelarchitekturen heutiger Hochleistungsrechner mit entwickelte, stellte zum Auslaufen des 20. Jahrhunderts den Prototyp einer Uhr vor, die im Jahr 2001 in Betrieb genommen werden und für 10.000 Jahre exakt laufen können sollte. Das aufwendige Projekt einer Gruppe von Techno-Enthusiasten, die sich Long Now Foundation nennt, tritt mit einem zeit-ökologischen Anspruch auf. Aber im Grunde versuchen sich seine Protagonisten in grenzenloser Anmaßung. Das Jetzt, die Gegenwart, soll in die Zukunft hinein gedehnt und damit tendenziell verewigt werden. Die Vorstellung der Ablage des Verstands für Generationen künftiger Jahrhunderte in künstlichen, dauerhaft haltbaren neuronalen Netzen folgt derselben obszönen Idee.
»Unsere Geschlechtlichkeit […] gehört zu einer anderen Entwicklungsepoche als unser geistiger Zustand« schrieb der polnische Dichter Bruno Schulz aus dem winzigen Ort Drohobycz, der heute in der Ukraine liegt, in der Fragmentsammlung seiner »Republik der Träume«4. Maschinen haben dieses Problem nicht. Sie haben keine Sexualität. Sie können viel schneller sein als die trägen Bio-Körper. Mit der kleinsten Einheit digitaler Maschinen, dem bit, kann man zwar rechnen, aber es ist der sinnlichen Wahrnehmung nicht mehr zugänglich. In zeitlicher Hinsicht unterläuft es sie. Es wird zur Währungseinheit einer neuen Ökonomie.
Vom Beginn des 20. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts hat eine markante Verschiebung in der Qualität politischer und ökonomischer Machtbeziehungen stattgefunden, in die Medien involviert sind und die sie zugleich vorangetrieben haben: von der Verfügung über Territorien hin zur Verfügung über die Zeit, weniger ihre Ausdehnung betreffend als ihre Feinstrukturierung, ihre Rhythmisierung, ihre Intensität. In Karl Marx’ Gesammelten Werken ist das Zitat eines anonymen Zeitgenossen erhalten, der die Vorstellung von Ökonomie, die dann der Dreh- und Angelpunkt der Marx’schen Kritik der etablierten bürgerlichen Ökonomie wurde, auf den Punkt brachte: »Wahrhaft reich ist eine Nation erst, wenn kein Zins für Kapital gezahlt wird; wenn statt zwölf Stunden nur sechs gearbeitet wird. Reichtum ist verfügbare Zeit und sonst gar nichts.« In einer Situation, die Zeit zur wichtigsten Ressource für die Ökonomie, die Technik, die Kunst erklärt, scheint es weniger darauf anzukommen, wie viel oder wie wenig Zeit wir haben. Wir müssen vielmehr darauf achten, wer über unsere Zeit und die der anderen wie verfügt. Das einzig wirksame Mittel gegen die bittere Melancholie als Grundhaltung gegenüber der Welt ist die Aneignung beziehungsweise Wiederaneignung der souveränen Verfügbarkeit über die Zeit, die das Leben und die Kunst benötigen. Nur so ist Zukunft denkbar – als ein permanentes Ding der Unmöglichkeit.
In Martina Kudlaceks filmischer Hommage an Maya Deren5 gibt es, die Zeit betreffend, eine elektrisierende Sequenz. In ihrem Film At Land (1944) klettert Deren in sehr langsamen Bewegungen vom Meeresstrand über einen archaischen Treppenbaum in eine Versammlung steifer bourgeoiser Damen und Herren an einer langen Dinnertafel und kriecht über die weiße Tischdecke. Im Off ertönt dazu die Stimme der Göttin der Kino-Avantgarde. Sie reflektiert ihre eigene filmische Poesie und deren Einbettung in verschiedene Modi des Zeiterlebens und der Zeitwahrnehmung. Das Besondere ihrer künstlerischen Arbeit bestehe darin, dass sie einem spezifischen Sinn für das Werden verpflichtet sei (»sense of becoming«). Dadurch zeichne sich das weibliche Verhältnis zur Zeit aus. Es sei geprägt durch die ständige Metamorphose innerhalb einer chrono- und biologischen Kontinuität. Wichtiger als die Frage, was ist, sei für sie diejenige, was aus dem werden könnte, was ist. Dem stellt sie den starken männlichen Sinn für das Momenthafte, die Unmittelbarkeit gegenüber. Der Mann sei eine Kreatur des Jetzt (»a now creature«).

Siegfried Zielinski, Köln, Juni 2002

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