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In Erinnerung an Professor Michael Lentz

Prof. Michael Lentz (mit freundlicher Genehmigung von Oliver Hohengarten)

Ein Menschenfreund. Nachruf von Prof. Dietrich Leder zum Tod von Michael Lentz (1926–2001), Professor für Drehbuch und Dramaturgie an der Kunsthochschule für Medien Köln von 1995 bis 2000.

Es muss Ende Mai, Anfang Juni 2001 gewesen sein, als ich Michael Lentz das letzte Mal an meinem Fenster vorbeigehen sah. Seit er zum Wintersemester 1994 an der Kunsthochschule für Medien angeheuert und das Hotel Lyskirchen zu einem seiner beiden Standorte um die KHM herum erklärt hatte, war er oft mittags an meinem Bürofenster vorbeigekommen. Es war wie ein stilles Einvernehmen. Wenn ich Zeit hätte, würde ich ihm ins Hotel-Restaurant folgen, wo er an einem ovalen Tisch in der linken Ecke Platz zu nehmen pflegte. Nicht in der vornehmen Zone, sondern dort, wo es eher nach Kneipe aussieht. Statt gedeckter Tische und Stoffservietten eine robuste Holzplatte und Bierdeckel für die Getränke. Dass die Bedienung ihn mit "Herr Professor" anredete, wehrte er amüsant ab. Und es freute ihn doch. Für Michael Lentz waren soziale Räume wie Kneipen – dieses Wort hatte für ihn nichts despektierliches – oder Restaurants mehr als nur notwendige Orte der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Sie bildeten so etwas wie die Ausgangsbasen, von denen er zu seinen Reisen in Geschichten, Anekdoten, Märchen, Dramen und Witze aufbrach. So hielt er seine Sprechstunden regelmäßig am ovalen Tisch des Hotel Lyskirchen oder in der benachbarten Kneipe "Zum roten Ochsen" ab. Hier saß er oft stundenlang mit den Studentinnen und Studenten und erörterte ihre Projekte. Das jeweilige Drehbuch oder Treatment lag vor ihm auf dem Tisch. Auf dem Deckblatt mit einem handschriftlichen Kommentar versehen, der er zu Beginn des Gesprächs erst einmal vorlas. Es waren kleine Gutachten, die geschickt die fachliche Kritik mit Aufforderungen und Erwartungen verbanden. Und die nicht das Kompliment vergaßen.

Michael Lentz war 68 Jahre alt, als er an die KHM berufen wurde. Im Berufungsverfahren hatte sich der älteste Bewerber als der jüngste herausgestellt, der voller Elan, aber bar jeden Jargons davon sprach, wie er den Studierenden das filmische Erzählen vermitteln wollte. In den nächsten sechs Jahren tat er das mit großem Erfolg. Auf den ersten Blick konnte der Kontrast nicht größer sein, wenn der ältere Herr im stilvollendeter Kleidung, mit seiner Liebe zu kubanischen Zigarren und seiner Treue zu guten Weinen den Studierenden in ihren Turnschuhen, mit Rucksäcken und der Neigung zu Gesundheitsgetränken begegnete. Aber sie verstanden sich bestens. In seinen Seminaren, die konkret von einzelnen Filmen oder Texten ausgingen und die auf die Eigenproduktion der Studierenden abzielten, herrschte ein liberales und offenes Klima, das zum Fabulieren und Erzählen einlud.

Die Studierenden mussten zunächst ihre mündlich skizzierten Ideen aufschreiben und in eine schriftliche Form bringen. Diese ersten Entwürfe verlasen im Seminar nicht die jeweiligen Autoren, sondern der Professor höchstselbst. Was einzelne Studierende zu Anfang irritierte, verfolgte einen doppelten Zweck. Indem er die Texte selbst vorlas, eignete er sie sich auf eine besondere Weise an. Zugleich verschaffte er ihnen allen eine gemeinsame Ebene, die erst den Vergleich (und damit auch die Kritik der Gruppe) ermöglichte. Hinzu kam, dass er gerne und mit seiner dunklen, wohltönenden und leicht aufgerauhten Stimme vor allem gut las. Dass er in einer Reihe von Filmen mitspielte, dass er Kommentartexte sprach oder als Statist mitwirkte, hatte seinen Ausgangspunkt in diesem Ritual seiner Seminare.

Wenn Michael Lentz seine Studenten auf etwas verpflichten wollte, dann war es so etwas wie Neugier auf die Wirklichkeit. Er bezeichnete sich als "extrem neugierig". Und so ärgerte es ihn, der in Konflikten die Contenance bewahrte, hörbar, wenn Studenten die Recherche ablehnten, wenn sie ihre Geschichte nur in den eigenen Milieus ansiedelten, wenn sie sich in müden Variationen des schon im Kino oder auf Video Gesehenen verstrickten.

Nicht, weil er Purist jenes ironischen Kinorealismus' gewesen wäre, den er selbst so liebte. In der Kunsthochschule hat er Filme wie "Milch" von Ludger Hoffacker, der mit seinen Märchenmotiven lustvoll spielt und sie visuell überraschend reich ausgestaltet, ebenso betreut wie klassische Komödien wie "Hör dein Leben" von Züli Aladag oder Krimis wie "Sheriffs" von Dusch Zellerhof. Er hat sie als Dozent immer dann betreut, wenn sie ihm stimmig erschienen und wenn er die Anstrengung der Studenten spürte. So war er über zwei Jahre der wichtigste Ansprechpartner für Hans Weingartner bei der Entwicklung, den Dreharbeiten und dem Schnitt des Films, "Das weiße Rauschen", in dem er selbst eine kleine Rolle übernahm. Dass Weingartner die Szene mit Michael Lentz klassisch (als Schuss-Gegenschuß) auflöste, während der Rest des Films eher durch die von mehreren Kameras aufgezeichneten Plansequenzen gekennzeichnet ist, kann man als eine Hommage des Studenten an seinen Professor deuten. Die ersten Erfolge dieses Films hat Michael Lentz noch miterlebt.

Seine berufliche Laufbahn hatte er nach einem Studium in Münster 1951 als festangestellter Redakteur bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung begonnen. Dort war er für die Seite mit Kurzgeschichten zuständig; damals schrieben viele Schriftsteller, von Heinrich Böll bis Arno Schmidt, für solche Seiten. Michael Lentz, der sich nach dem Krieg begeistert auf amerikanische Autoren wie Ernest Hemingway gestürzt hatte, pflegte Schriftsteller seiner Linie, die knapp und pointiert zu schreiben verstanden. Zugleich war er für die Filmkritiken verantwortlich. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1991 schrieb er regelmäßig die Film-Aufmacher der Kulturseite der WAZ. Überregional als Filmkritiker wurde er in den sechziger Jahren durch seine Auftritte in der Sendung "Ratschlag für Kinogänger" im ZDF bekannt. In dieser Reihe fiel Lentz, der ein Faible für den amerikanischen Film und für das junge europäische Kino besaß, durch die leise Ironie auf, mit der er seine Urteile schmückte. Auch in seinen Artikeln trumpfte er nie auf.
Als Connaisseur, der er zeit seines Lebens war ("Das Leben ist zu kurz, um offene Weine zu trinken" zählte zu seinen Prinzipien), schrieb er seine Filmkritiken so, dass die Leser an seinem Genuss Anteil haben konnten. Er scheute deshalb nicht vor der Verwendung der ersten Person Singular zurück. Er protokollierte so die Gefühle wie die Gedanken, die Filme bei ihm auslösten. Das Urteil über die Filme war dem nachgestellt. Seine Texte hatten so nichts mit einer sich wissenschaftlich gerierenden Filmkritik zu tun, die sich wichtiger als der angeschaute Film nimmt. Sie verband auch nichts mit einer dogmatischen Kritik, die ihre Urteile aus einem starren Regelwerk deduziert; egal, ob sich das Dogma aus dem Politischen oder Ästhetischen speist. Er gehörte keinem Lager zu. Das sollte für Michael Lentz Folgen haben. Galt er in den sechziger Jahren als einer von zwanzig bundesweit anerkannten Kritikern, wurde er in den siebziger und achtziger Jahren bei gleichbleibender Produktivität von jüngeren Autoren in der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Es schien, als würde er nicht mehr so ernst genommen. Das hat ihn gefuchst.

In seinen Kritiken legte Lentz besonderen Wert auf Drehbücher. Autoren wie I.A.L. Diamond und Ben Hecht, die beide unter anderem für Billy Wilder gearbeitet hatten, zählten zu seinen Favoriten. Unter den Regisseuren bevorzugte er jemanden wie Roman Polanski, dessen erste Arbeiten er auf den Oberhausener Kurzfilmtagen entdeckt hatte. In Oberhausen wie auf anderen Filmfestivals der Welt war er ein gern gesehener Gast. Dort bildete er das Zentrum einer kollegialen Geselligkeit, wie man sie sich heute kam noch vorstellen kann. Seine Pokerrunden mit Kollegen im "Petit Charlton" in Cannes sind ebenso legendär wie seine Skatabende bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen. Wer ihn in diesen feuchtfröhlichen Runden erlebt hat, war von ihm als Erzähler gefesselt. Er besaß einen unendlich groß scheinenden Fundus an Geschichten, Anekdoten und Witzen, aus dem er nach Belieben oder nach Aufforderung pointensicher schöpfte. Wenn ich in dem Buch "Deutschland lacht", das er gemeinsam mit Dieter Thoma und Chris Howland schrieb und das Ende der neunziger Jahre außerordentlich erfolgreich war, lese und Passagen von ihm entdecke, ist es so, als hörte ich seine Stimme. So deckungsgleich erscheinen mir Text und Intonation.

Ich hörte ihm gerne zu. Einmal erzählte er mir spätabends von seinen Abenteuern beim Pokern. Er deutete an, dass er vor zwanzig oder dreißig Jahren um relativ hohe Einsätze gespielt haben muss. Treffpunkt war eine von außen unscheinbar wirkende Kneipe in Essen-Holsterhausen. In ihr Hinterzimmer zogen sich die Spieler zurück, um illegal hohe Einsätze zu riskieren. Nachts, als die Kneipe offiziell längst geschlossen hatte, aber die Spieler im Hinterzimmer weiterzockten, seien regelmäßig die Frauen von Mitspielern gekommen und hätten an der verschlossenen Kneipentür gerüttelt. Sie hätten geweint und gefleht, damit ihre Männer nicht wieder den monatlichen oder wöchentlichen Lohn verspielten. Gespenstische Schreie und lautes Jammern auf den menschenleeren Straßen der Kleinbügeridylle in Holsterhausen. Er gab mir an jenem Abend den Tip mit auf den Weg, dass ein guter Pokerspieler stets über gut versteckte Reserven verfügen müsse, auf die er nur in dramatischen Entscheidungssituationen zugreifen dürfe.
Es ist kein Wunder, dass ihm eine Kneipengeschichte die erste Aufforderung eintrug, ein Drehbuch zu verfassen. So begann Michael Lentz 1964 für das Kino zu schreiben. Zunächst für die Regisseure, die er in Oberhausen kennengelernt hatte. Der erste Film hieß "Lockenköpfchen", den die einschlägigen Lexika als eine Persiflage auf das Cinéma Verité bezeichnen. Lentz muss sich gemeinsam mit seinem Regisseur Ulrich Schamoni einen Witz auf die aufbrechende Mode eines radikalen Kamerarealismus gemacht haben. Im nächsten Jahr unterschrieb er den Brief, in dem die Auswahlkommission der Oberhausener Kurzfilmtage den NDR bat, den für das Fernsehmagazin "Panorama" gedrehten Film "Parteitag 64" für den Wettbewerb freizugeben. Dieser Film von Klaus Wildenhahn gilt als einer der ersten Filme des Uncontrolled Cinema in Deutschland, das dem Cinéma Verité formal sehr verwandt ist. Der Widerspruch zwischen dem Spott über eine gewisse Realismus-Gläubigkeit und dem Einsatz für einen guten Dokumentarfilm existierte für Michael Lentz nicht. Er wusste da sehr genau zu unterscheiden.
Sein zweites Drehbuch für den von Ulrich Schamoni inszenierten Spielfilm "Alle Jahre wieder" war erfolgreich. Die Geschichte aus Münster, seiner Heimatstadt, erhielt 1967 bei den Berliner Filmfestspielen einen Silbernen Bären und den Preis der Internationalen Filmkritik für das beste Drehbuch. Der Schwarzweißfilm erzählt von einem vierzigjährigen Mann namens Hannes Lücke (gespielt vom Theaterregisseur Hans Dieter Schwarze), der zu Weihnachten seine Familie und Ehefrau besucht, von der er getrennt lebt. Bei seinen Gängen durch die westfälische Provinzstadt sucht er eine Antwort auf die Frage zu finden, ob er sich nun scheiden lassen soll oder nicht. Ein leiser melancholischer Film, der das gesellschaftliche Gefühl von Statik und Enge, wie es viele Menschen Mitte der sechziger Jahre erlebten, in Szenen und Bilder fasst. Jedenfalls kam es mir so vor, als ich den Film Mitte der neunziger Jahre zufällig nachmittags in einem deutschen Privatsender entdeckte und wiedersah.

Auf der Internetseite, die für den mittlerweile verstorbenen Regisseur Ulrich Schamoni eingerichtet wurde, findet sich eine zeitgenössische Kritik, die scharf mit dem Film ins Gericht geht: "Hier wird Scheinkritik betrieben", lautet das harsche Urteil. Geschrieben vom damaligen Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Karl Korn. Ob Michael Lentz die Kritiken kannte, die Korn in der SS-Zeitung "Das Reich" beispielsweise über "Jud Süß" geschrieben hatte? Die von Korn verdrängte NS–Vergangenheit relativiert seine Kritik an "Alle Jahre wieder" selbstverständlich nicht. Erstaunlich ist aber, dass seine Kritik von vielen jungen linken Kritikern der Zeit geteilt wurde. Beiden Generationen war der damals vierzigjährige Lentz nicht radikal genug. Und das macht darauf aufmerksam, dass er zwischen den Fronten der Generationen stand.

Er wurde 1926 geboren. Seine Jugendzeit erlebte der katholisch erzogene unter dem Nationalsozialismus. Er war Jugenschaftsführer in der Hitlerjugend, der degradiert wurde, als er die Hetze gegen Kardinal Gahlen nicht mitmachte. Mit 17 Jahren wurde er – wie viele seiner Altersgenossen – mitten aus der Schule heraus als Flakhelfer eingezogen. Seine Generation war die letzte Reserve des Nazi-Abwehrkampfs. Schlecht ausgebildet, miserabel ausgestattet, aber ideologisch hochgerüstet wurden sie an eine Front geworfen, die stärkere Bataillone nicht hätten halten können. Sie wurden in einen, spätestens nach Stalingrad, aussichtslosen Krieg hineingezogen, den sie nicht begonnen, aber mit dem sie vielleicht als Angehörige von HJ und BDM sympathisiert hatten. Weil es ihnen die Propaganda wie die Erziehungsagenturen der Nationalsozialisten nahegelegt hatten. Sie wurden so am Ende noch Teil des deutschen Angriffskrieges, mit dessen Verbrechen sie Zeit ihres Lebens konfrontiert wurden.

Michael Lentz hat über seine Kriegserfahrungen erstmalig bei einer Lesung eines autobiographischen Textes auf der Veranstaltung "per - > SON" 1999 berichtet. Der Text beschreibt in unmissverständlichen Worten, welche Alpträume und Neurosen dieser Drill auf den Tod bei ihm hinterlassen hat. Und er hält fest, dass es indirekt sein Leben als Soldat seiner Auszeichnung für den Abschuss von Flugzeugen verdankt. Seine Flugangst, unter der er litt und der er sich bei seinen Reisen dennoch aussetze, deutete er selbst als Resultat dieser traumatischen Schulderfahrung. Der Text ist unsentimental und spiegelt doch bewegende Szenen. In ihm zeigt sich seine Arbeit am Begriff wie seine literarische Qualität, die er als Berufsjournalist zu wenig beweisen konnte (siehe Fußnote 7).
Heinz Bude hat in seiner Studie "Deutsche Karrieren" (siehe Fußnote 8) Gemeinsamkeiten dieser Flaghelfer-Generation aus Lebensbeschreibungen herauspräpariert. Bei vielen biographischen Unterschieden verbindet sie eine grundlegende Skepsis gegenüber großen gesellschaftlichen Entwürfen. Helmut Schelsky münzte auf diese Generation seinen sprichwörtlich gewordenen Titel "Die skeptische Generation" (siehe Fußnote 9). Sie eint darüber hinaus der Wunsch nach materieller Sicherheit und nach einem gewissen Wohlstand, den sich viele von ihnen in der prosperierenden Bundesrepublik erwerben konnten. Das gilt auch für Michael Lentz. Er bewohnte in den achtziger Jahren gemeinsam mit seiner Frau Jelka eine Villa in Essen-Bredeney, die der Journalist Arnold Hohmann als "ein Stückchen Beverly Hills" im Ruhrgebiet bezeichnet hat, als er seinen Kollegen für die Süddeutsche Zeitung porträtierte (siehe Fußnote 10).

"Alle Jahre wieder" trägt autobiographische Züge. So leitet die Ehefrau der Filmfigur Lücke eine Tanzschule wie die erste Frau von Michael Lentz (siehe Fußnote 11). Und Lücke selbst befindet sich psychisch in einer ähnlichen Krise, wie sie der Drehbuchautor Mitte der sechziger Jahre für sich konstatiert. Der Sprung ins Drehbuchgeschäft, erzählte er mir einmal, sei auch Ausdruck einer Sinneskrise gewesen. Ihn hätte zu dieser Zeit die Vorstellung irritiert, die nächsten dreißig Jahre im Frontdienst einer Tageszeitung zu verbringen. Dennoch muss Lentz die Ausgangsidee anderswo gefunden haben. Als ich nachschaute, welche Kurzgeschichte Heinrich Böll dem Redakteur Lentz zum Erstdruck überlassen (und heißt: verkauft) haben könnte, entdeckte ich in einer Werkausgabe eine Kurzgeschichte mit dem Titel "So ward Abend und Morgen" (siehe Fußnote 12), die Weihnachten 1954 in der WAZ erstveröffentlicht wurde. In ihrem Mittelpunkt steht der innere Monolog eines Mannes, der am Heiligabend ziellos durch seine Heimatstadt schlendert. Seine Überlegungen kreisen um seine Ehe und Lebensperspektive. Unterbrochen wir die Selbstreflexion von absurden Begegnungen: "Ein Mann ging an ihm vorbei, und er hörte, dass der Mann betrunken war und sang: Alle Jahre wieder (…)." (siehe Fußnote 13)

Ab 1966 arbeitete Lentz zweigleisig – als Journalist und als Drehbuchautor, bald auch als Regisseur und Produzent. Auffallend an seinen Filmen der siebziger Jahre wie dem Spielfilm "Zoff" (Regie: Eberhard Pieper) oder dem von ihm selbst inszenierten Kurzspielfilm "Sportsfreunde" ist sein humorvoller Blick auf gesellschaftliche Außenseiter. "Der letzte Wurf", 1969 gedreht, fällt unter diesen Filmen besonders auf, weil Lentz für ihn viele Freunde und Bekannte als Darsteller engagierte. Es ist, als wollte er dem Kreis derjenigen, die sich im Oberhausen der frühen sechziger Jahren angefreundet hatten, filmisch ein kleines Denkmal setzen.
Der Kurzspielfilm erzählt die absurde Geschichte einer Hammerwurfabteilung, die von ihrem westfälischen Sportverein ausgeschlossen wird, weil die Hämmer beim Training die Grasnabe des Sportplatzes verletzen. Auf ihrer Suche nach einem geeigneten Trainingsort zieht die Truppe mit ihrem treuen Transportpferd durch die Stadt. Doch nirgendwo sind sie wohlgelitten. In der Einkaufspassage kommt es zu einer Auseinandersetzung mit der Polizei, aus der die Hammerwerfer – nach dem Kommando "Hämmer frei!" - siegreich hervorgehen. Aber der Sieg ist nur von kurzer Dauer. Den obersten Hammerwerfer spielt der Gründer des Fernsehmagazins Aspekte (ZDF), Walter Schmiedling. Als Platzwart hat der Gründer der Oberhausener Kurzfilmtage, Hilmar Hoffmann, seinen Auftritt. Und als Renegat, der vom Hammerwurf zum Gehen wechselte, watschelt der Kabarettist Werner Schwier durch den Film.
Der Film hat gewiss seine Schwächen. Die Kalauer zu Beginn wirken heute ein wenig altbacken. Aber die Konstruktion der Geschichte sowie die feine Ironie, mit der Lentz die Sprache der Bürokraten, Funktionäre und Repräsentanten karikiert, verleihen dem Film einen Witz, der noch heute bestens funktioniert. Freunde habe Michael Lentz angelegentlich als Eulenspiegel bezeichnet. Bei meiner Lektüre zur Generation der Flakhelfer las ich einen Text wieder, der von einem Angehörigen dieser Generation stammt und in dem Eulenspiegel als Figur eine entscheidende Rolle spielt. Ich meine die Untersuchung "Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen", (siehe Fußnote 14) mit der Klaus Heinrich 1964 als Religionswissenschaftler promoviert wurde. In seinem "Exkurs über Eulenspiegel als Maieutiker" beschreibt er dessen Technik als "darstellendes Erkennen". Und zusammenfassend: Eulenspiegel "war kein Verräter, denn er verrät nicht die Menschen, sondern das Selbstzerstörerische ihres Tuns. Er war Wahrheitssucher oder (um es mit dem wunderschönen Wort, das Günther Anders wieder zu Ehren gebracht hat, auszudrücken) ein Menschenfreund" (siehe Fußnote 15). In diesen Worten finde ich etwas von meinem Bild des Michael Lentz wieder.

1972 gründete er mit seiner Frau Jelka Naber-Lentz die Produktionsfirma Oase. Sie produzierte in den nächsten 16 Jahren, bis sie vom WAZ-Konzern geschluckt wurde, erfolgreich Kino-, Trick- und Dokumentarfilme, aber auch Fernsehreihen und -serien. Von Michael Lentz angestoßen und von der Oase produziert, legte beispielsweise Rolf Schübel mit "Nachruf auf eine Bestie" (1983) und "Der Indianer" (1989) zwei der wichtigsten Dokumentarfilme der achtziger Jahre vor. Beide Filme erhielten ebenso einen Grimme -Preis wie die von Michael Lentz selbst als Regisseur verantworteten Filme "Wie in alten Zeiten" (1982) und "Wegen Reichtum geschlossen" (1985). Unter seinen weiteren Fernseharbeiten sei die WDR-Reihe "Die Hundertjährigen" erwähnt und die mehrteilige Revue "Durch dich wird die Welt erst schön", in der er gemeinsam mit Paul Kuhn an die deutsche Schlagergeschichte erinnerte (siehe Fußnote 16).

Wir haben in seiner Zeit an der Kunsthochschule viele Gespräche miteinander geführt. Dienstliche und private. Und wir haben regelmäßig miteinander Skat gespielt. Lentz konnte Stunden bei Wein und Rauchwaren mit diesem Kartenspiel verbringen. Dabei blühte er auch an Tagen auf, die für ihn in seinem Alter hart gewesen sein müssen. Und hier zeigte er seine Fähigkeit, Taktiken des Gegners früh zu erkennen und wagemutig selbst mit schwachem Blatt nach vorn zu marschieren. Verblüffend sein Erinnerungsvermögen nicht nur während eines Spiels sondern noch am nächsten Tag. Während ich mich gerade noch an einige wenige herausragende Spiele wie an den nicht gerade kleinen Betrag, den ich als zuverlässiger Verlierer des Bier-Lachses zahlen musste, erinnerte, wies er mir nach, wann ich bei einem längst verdrängten Marsch die falschen Karten aufgespielt hatte. Sein Erinnerungsvermögen war phänomenal. Filmtitel und komplette Schlagertexte konnte er nach kurzem Überlegen wie im Schlaf aufsagen. Vielleicht, denke ich heute, bestand die Kehrseite dieses Vermögens darin, dass er nicht vergessen konnte. Beispielsweise, was er als Flakhelfer erlebt hatte (siehe Fußnote 17).

Michael Lentz sah man nie an, welches Blatt er auf der Hand hatte. Sein Gesicht, auf dem sich gerne ein leises Lächeln zeigte, verriet selten etwas. Nicht nur beim Skat. Über seine Krankheiten, die ihn in den letzten beiden Lebensjahren befielen, sprach er beispielsweise nur dann, wenn man ihn eindringlich dazu aufforderte. Auf die beruflichen Krisen kam er nur angelegentlich zu sprechen, über die privaten schwieg er. Über die Westdeutsche Allgemeine Zeitung, bei der er seit 1951 als Redakteur für Literatur und Film fest angestellt war und bei der er bis zu seiner Pensionierung (in den letzten Jahren allerdings auf einer halben Stelle) gearbeitet hatte, machte er nur Andeutungen. Wer ihn allerdings gut kannte, konnte an seinem Film über den WAZ-Gründer Erich Brost, den er für den WDR drehte, das ambivalente Verhältnis ablesen, das ihn mit seiner Zeitung verband. Nur gelegentlich, wenn das Gespräch auf die Kämpfe kam, die zwischen Erich Brost und dem Clan des zweiten Herausgebers Funke in den siebziger Jahren (siehe Fußnote 18) geherrscht hatten, deutete er an, was er an Realsatiren unmittelbar miterlebt hatte.

Als Michael Lentz Ende Mai, Anfang Juni 2001 mittags an meinem Fenster vorbeiging, sah man ihm die Folgen seiner Krankheit an. Und das genierte ihn. Beispielsweise, dass er sich nur noch mit einem Stock vorwärtsbewegen konnte. Als er so an meinem Fenster vorbeitappte, fiel mir die Bitte seiner Frau Jelka ein, wir sollten ihn nur nicht allein über die Straße gehen lassen.
Jelka Naber-Lentz hat für ihren Mann auf bewundernswerte Weise gesorgt. Die erfolgreiche Produzentin und tüchtige Geschäftsfrau kümmerte sich per Telefon aus der Ferne noch um Michael, als sie selbst sehr schwer krank war. Ihre Worte im Ohr stürzte ich an jenem Frühsommertag Michael Lentz hinterher. Ich kam aber zu spät. Er hatte längst das Hotel betreten. Und so schaute er mich fragend an, als ich ihm in eiliger Hast erreichte. "Haste auch Hunger?"

Am 11. Oktober 2001 starb Jelka Naber-Lentz nach langer, schwerer Krankheit. Sie war mehr als eine Produzentin. Sie war eine Art Institution im Ruhrgebiet und darüber hinaus in ganz Nordrhein-Westfalen. Die Zahl der jungen Regisseure und Produzenten, die bei ihr um Rat nachfragten und nie enttäuscht wurden, ist groß. Auch die Kunsthochschule hat ihrer stillen Hilfe viel zu verdanken. Am Tag vor ihrem Tod hatten Michael Braun und ich zum letzten Mal Michael Lentz in Essen getroffen. Wir in seinem Lieblingsrestaurant zusammen gegessen und getrunken und erzählt. Und wir haben über die Zukunft geredet. Wenige Wochen nach Jelka starb am 30. November Michael im Alter von 75 Jahren. Die Kunsthochschule für Medien Köln wird ihn in ehrender Erinnerung halte – als Kollegen, als Hochschullehrer, als Freund, als Menschenfreund.

Dietrich Leder


Der Nachruf "Ein Menschenfreund" erschien 2002 im Lab. Jahrbuch für Künste und Apparate der Kunsthochschule für Medien Köln.



Fußnoten:
1) Vgl. Hans Helmut Prinzler, Shadows of the Past. Die bundesdeutsche Filmkritik der fünfziger Jahre. In: Norbert Grob et al., Die Macht der Filmkritik. Positionen und Kontroversen. München 1990, S. 46ff.
2) Vgl. auch Michael Lentz/ Dieter Thoma/Chris Howland, Ganz Deutschland lacht! Fünfzig deutsche Jahre im Spiegel der Witze. München 1999.
3) Der Brief wird zitiert in: Egon Netenjakob, Liebe zum Fernsehen und ein Porträt des festangestellten Filmregisseurs Klaus Wildenhahn. Berlin 1984. Hier S. 197.
4) Siehe www.ulrich-schamoni.9.11.39.hall-of-memory
5) Karl Korn, "Alle Jahre wieder". Ein Unterhaltungsfilm von Ulrich Schamoni in Berlin. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.Juli 1967.

6) Vgl. Otto Köhler, Unheimliche Publizisten. Die verdrängte Vergangenheit der Medienmacher. Münche 1995.Hier: S. 360ff.
7) Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung hat nach dem Tod eine Erzählung von Michael Lentz ("Die Stunde der Blockflöten") wiederveröffentlicht.
8) Heinz Bude, Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation. Frankfurt/M. 1987.
9) Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend. Düsseldorf 1957.
10) Arnold Hohmann, Michael Lentz – Beverly Hills in Essen. In: Cornelia Bolesch (Hg.), Dokumentarisches Fernsehen. Ein Werkstattbericht in 48 Porträts. München 1990. Hier: S. 68.ff
11) Dass Michael Lentz mir als Pennäler in den sechziger Jahren als eine Autorität erschien, die es zu bekämpfen galt, mag hier seien versteckten Wurzeln haben. Die Tanzschule Lentz war die einzige Einrichtung dieser Art in meiner Heimatstadt Essen, in der 1968 auf dem Räuberball "Beatmusik" gespielt wurde. Dennoch besuchte ich ihre Kurse nicht. Neben mir verweigerten diesen Dienst an der gesellschaftlich gesitteten Bewegungsform nur noch ein Klassenkamerad, von dem alle wussten, dass er Priester werden würde. Das prägt einen für's Leben. Zu dieser Zeit entdeckte ich das Kino – nicht als Flucht- und Traumort, sondern als Stätte von der intellektuelle Impulse ausgingen. Die Sozialisation im Essener Filmclub schärften meinen Blick. Unter der Begeisterung für den (intellektuell begründeten) Rigorismus eines Bresson, eines Godard oder eines Kluge las ich die Filmartikel der heimischen Provinzzeitung WAZ mit wachsender Kritik. Das brachte mich zu Michael auf Jahre in eine Distanz, die wir gemeinsam erst in den achtziger Jahren überbrücken konnten.
12) Heinrich Böll. So ward Abend und Morgen. In: ders., Erzählungen 1952-1959. Hg. von Viktor Böll und Karl Heiner Busse. Köln 1997. Hier: S. 130ff.
13) Ibid., S. 131.
14) Klaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen. Frankfurt/M. 1985 (verb., 3. Auflage).
15) Ibid., S.96.
16) Über seine Liebe zu Schlagern möchte ich schweigen. Wir waren uns in vielen Dingen einig, vor allem natürlich beim Fußball. Die deutsche Meisterschaft von Borussia Dortmund im Mai 2002 hätten wir mit unserem gemeinsamen Freund Michael Braun, der ihn in den letzten beiden Semestern in der Kunsthochschule unterstützte, bei Wein und Bier gefeiert. Aber bei der populären Musik trennten uns Welten. Vermutlich lassen sich die Trennungslinien zwischen Generationen heute weniger an der Allgemeingeschichte ablesen, als vielmehr an der Geschichte der Popmusik.
17) Ein weiterer Generationskollege von Michael hat über den Zusammenhang von Erinnerung und Vergessen ein schönes Buch geschrieben: Harald Weinrich. Lethe Kunst und Kritik des Vergessens. München 1997.
18) Vgl. Hans-Jürgen Jakobs/Uwe Möller. Augstein, Springer&Co. Deutsche Mediendynastien. Zürich 1990. Hier: S. 149 ff.


Michael Lentz wurde 1926 in Rheda/Westfalen geboren. 1946-50 Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Philosophie und Zeitungs-wissenschaften an der Westfälischen Landesuniversität, Münster; erste Kurzgeschichten, Reportagen, Literatur- und Filmkritiken für WAZ und Westfälische Nachrichten. Von 1950 bis 1980 Redakteur der WAZ für Filmkritik, anschließend als freier Journalist tätig.
Ab 1965 Verfassen von Drehbüchern: Verfilmung von "Lockenköpfchen" und "Alle Jahre wieder" durch Ulrich Schamoni, Auszeichnung bei den Berliner Filmfestspielen 1967, Silberner Bär, und Preis der Internationalen Filmkritik für das beste Drehbuch. 1969 Gründung einer Firma mit Vlada Majic: Produktion preisgekrönter Kurzfilme.
1972 Gründung der Filmproduktion 'OASE-Film': Produktion von über 60 Kurzspielfilmen sowie Buch und Regie für Dokumentationen, Serien und Spielfilme. Realisierung von Projekten mit den Regisseuren Wolfgang Staudte, Duccio Tessari, Theo Kotulla, Rolf Schübel u.a. bis zum Verkauf der Firma 1988.
Seitdem Arbeit als Drehbuchautor, Dramaturg und Berater für verschiedene Filmproduktionen. Leitung von Drehbuchseminaren an der Filmwerkstatt Essen.. Von 1995 bis 2000 war Michael Lentz Professor für Dramaturgie und Drehbuch an der Kunsthochschule für Medien Köln.

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