Hikari 275

„Hikari 275“ ist eine Handkamerafahrt auf der Tokaido-Shinkansen-Strecke von Tokyo nach Kyoto in einer festen Einstellung mit Blickrichtung Westen. Das schmale Hochformat nimmt Anleihen bei der Form des chinesischen Rollbildes. Minimale Verschlusszeit und geöffnete Blende erzeugen ein Bewegtbild ohne fokalen Schwerpunkt: Gegenstände in unmittelbarer Nähe der Zugtrasse sind gleichermaßen klar gezeichnet wie weit entfernte Details des Hintergrundes. Der Bildraum wird daher nicht durch Schärfeebenen, sondern durch verschiedenen Geschwindigkeitszonen definiert, die sich in Abhängigkeit von ihrer Entfernung zur Kamera gegeneinander bewegen. Ein gleitender Wechsel von Akzeleration und Verlangsamung, von Naturalismus und Abstraktion bestimmt das Bild im zeitlichen Ablauf: Dort wo Bebauung und Vegetation bis dicht an das Objektiv heranreichen, die Zonen des Vordergrundes also dominieren, beschleunigt das Bild bis an die Grenze zur Abstraktion. Konkrete Gegenstände lösen sich in Farbflächen und geometrische Muster auf. Partien in denen die Hintergrundzonen stärker zum Tragen kommen, verlangsamen das Bild und binden es an die Gegenständlichkeit zurück. Fokussiert das Auge beim natürlichen Sehen stets einen Fixpunkt oder ein Objekt als Aufmerksamkeitszentrum und stellt dieses im doppelten Sinne scharf, so gerät der physiologisch-kognitive Fokus von Wahrnehmung, bei starker Beschleunigung der Wahrnehmungsgegenstände, wie sie der Blick aus dem Fenster des Schnellzuges mit sich bringt, an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Die Überforderung der Wahrnehmung mündet in einen kontemplativen Blick, der der Bewegung des Bildes folgt ohne es zu fixieren.