Steffen Meyn begann sein Studium an der KHM im Wintersemester 2015/16.
Am 19.9.2018 verunglückte er bei Dreharbeiten im Hambacher Forst tödlich.
Steffen begegnete seinen Mitmenschen stets unvoreingenommen und offenherzig. An der KHM wurde er als zuverlässiger Helfer und in alle Richtungen interessierter Ansprechpartner geschätzt, der seine Meinung offen und klar zum Ausdruck brachte, dabei aber immer respektvoll und konstruktiv blieb.
Zudem war es für Steffen eine Selbstverständlichkeit, sich in den studentischen Gremien zu engagieren und auf diesem Weg an der Verbesserung des Miteinanders an der Hochschule zu arbeiten.
Dabei hatte er selbst viele Ideen, dichtete, schrieb, malte, performte, komponierte, filmte. Steffens Ziel war es, die Gesellschaft mit seinem Einsatz gerechter, toleranter, rücksichtsvoller zu machen. Und in seiner Kunst sah er ein Instrument, das diesen persönlichen Einsatz vervielfachen konnte.
Im Frühjahr 2017 knüpfte Steffen Kontakte zu einigen der KlimaaktivistInnen, die im Hambacher Wald leben und gegen dessen Rodung zum Zweck der Braunkohlegewinnung demonstrieren. Sein Interesse ging dabei weit über den politischen Protest und dessen Möglichkeiten hinaus, Steffen begriff die Baumhaussiedlungen auch als ein Experimentierfeld für alternative Lebensformen, in denen der Bezug der Menschen zur Natur sowie untereinander neu erprobt werden könnte.
(Video-Ausschnitt oben: „Führung durch den Wald“)
In seiner Projektskizze formulierte Steffen: „Trotz der Bedrohung herrscht in den Baumhausdörfern eine ganz besondere Atmosphäre. Die BesetzerInnen sind hierarchiefrei organisiert. Jeder Mensch steht für sich selbst und handelt eigenverantwortlich und mit Respekt für seine Mitmenschen. Gegenseitige Achtsamkeit, Rücksichtnahme und Kommunikation derer sind selbstverständlich. Es scheint zu einer Art utopischem Geist zu gehören, den ein Mensch im Hambacher Wald spürt, der die BesetzerInnen in freundlicher Absicht besucht.“
Aus den Erfahrungen seiner ersten Besuche im Hambacher Wald entwickelte Steffen zwei Projekte: Zum einen drehte er einen Dokumentarfilm, in dem er im Stile eines Videotagebuchs seine Zeit im Hambacher Wald reflektiert. Steffen beobachtete in erster Linie sich selbst dabei, wie er das neue Leben in einer Baumhaussiedlung annehmen und wie es ihn verändern würde.
Zum anderen wollte er mittels einer Helmkamera eine 360-Grad-Erfahrung ermöglichen, die dem Betrachter das Leben in und mit den Bäumen näher bringen kann.
(Video-Ausschnitt oben: „Paradies“)
„Für ihn war Kunst eine hervorragende Möglichkeit, seine Sensibilität und sein Denken in Formen eines Probehandelns zu verdichten, mit dem er in die ihn praktisch interessierenden Lebensverhältnisse einwirken konnte. Zu solchem Verständnis gehört, dass es eine Trennung zwischen Kunst und Nichtkunst, Politik, Gesellschaft und Denken nicht gibt. Es sind die individuellen Erfahrungen und Setzungen, die entscheidend sind dafür, dass solche Kunst von dem jeweiligen Einzelnen verfolgt und gemacht werden muss.“ (Hans-Ulrich Reck über Steffen Meyn)
Steffens Position blieb lange Zeit die eines Beobachters, der zwar mit der Sache der AktivistInnen sympathisierte, jedoch stets für Verständnis und Menschlichkeit auf beiden Seiten des Konflikts einstand. Eindeutig war er auch in seiner Ablehnung jeglicher Gewalt gegen Menschen. Als es im Sommer 2017 im Zuge einer angekündigten, letztlich aber nicht vollzogenen Räumung der Baumhaussiedlungen zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften kam, bei denen auch der zuständige Kontaktpolizist tätlich angegangen wurde, notierte Steffen in einer Sprachaufnahme:
„Ich verstehe halt nicht dieses Gegeneinander, diesen Hass. Nur weil der ein Polizist ist, begegnet man dem doch nicht, als wäre der nicht ein Mensch wie jeder andere auch. (…) Ich hab mich nicht wohl gefühlt da, bei dieser Eskalation. Das geht mir zu nah.“ Aber er ergänzte auch: „Da ist immer die Frage, inwieweit diese gewisse Militanz, diese Kompromisslosigkeit auch förderlich ist für die Sache. Und ich weiß es einfach nicht.“
(Video-Ausschnitt oben: „Kontaktpolizist“)
2018 spitzte sich der Konflikt zwischen den AktivistInnen auf der einen und RWE, Polizei und Landesregierung NRW auf der anderen Seite derart zu, dass sich auch der Fokus von Steffens Projekten verschob.
RWE plante als Betreiber der Braunkohleförderung, ab 1. Oktober 2018 mit der Rodung des verbliebenen Teils des Hambacher Waldes zu beginnen.
Der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) klagte gegen die Genehmigung des Hauptbetriebsplans für Braunkohlegewinnung durch das Bundesland NRW und verbuchte am 6. September einen Teilerfolg, als das Oberverwaltungsgericht NRW einen vorläufigen Rodungsstopp bis zum 14. Oktober verfügte. Der BUND hoffte, dass RWE und die Landesregierung die endgültige Entscheidung des Gerichts zu seiner Klage abwarten würden.
Dennoch ordnete die Landesregierung NRW unter Ministerpräsident Armin Laschet, Innenminister Herbert Reul und Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung Ina Scharrenbach am 12. September 2018 die Räumung der etwa 50-60 Baumhäuser im Hambacher Wald an. Offiziell begründet wurde dieser Schritt mit den geltenden Brandschutzbestimmungen, die in den Baumhäusern nicht eingehalten wurden, weshalb die Landesregierung bei diesem mutmaßlich größten Polizeieinsatz der jüngeren Geschichte Nordrhein-Westfalens auch nicht von einer Räumung, sondern tatsächlich von einer „Rettungsaktion“ sprach.
Es ist diese „kreative Ausdehnung der Befugnisse“ (Zitat Steffen), die Steffen veranlasst, von nun an unmittelbar Bericht zu erstatten und unter dem Nickname "Vergissmeynnicht“ kurze Texte und Videos zu twittern.
Während dieser Tage holte sich Steffen Unterstützung von KommilitonInnen, die für sein Projekt am Boden filmten, während er das Geschehen aus der Höhe der Baumhaussiedlungen dokumentierte. Zuvor hatten ihn Polizisten mehrfach daran gehindert, die Ereignisse vom Boden aus zu filmen.
Auf dem letzten Foto, das von ihm existiert, sieht man Steffen am 19. September 2018 ungewohnt angespannt und eindeutig übermüdet. Die Polizei hatte in den vorangegangenen Nächten die Baumhäuser mit Scheinwerfern angestrahlt und laut Aussage einiger AktivistInnen zum Teil die Arbeiten mit den Kettensägen fortgesetzt.
Wenige Stunden später brach ein Querholz einer Verbindungsbrücke unter Steffens Füßen. Er war – für ihn völlig untypisch - nicht gesichert, stürzte in die Tiefe und verstarb noch an der Unfallstelle.
Nach Steffens Tod wurden die Räumungen für einen Tag unterbrochen, ehe die Polizei ihre Arbeit am 21.9. wieder aufnahm und bis zum 26.9. fortsetzte.
Am 6. Oktober gab das Oberverwaltungsgericht NRW der Klage des BUND statt und verfügte einen Rodungsstopp im Hambacher Wald.
Steffens Leichnam wurde gegen den ausdrücklichen Willen seiner Eltern obduziert.
Die Speicherkarten aus Steffens Kameras wurden zunächst von der Staatsanwaltschaft Aachen einbehalten und ausgewertet. Steffens Eltern bemühten sich monatelang vergeblich, die Speicherkarten zurück zu bekommen. Erst als die KHM sich einschaltete, wurden diese am 7. April 2019 an Steffens Eltern übergeben.
Der zuständige Kommissar beteuerte zwar, keine Änderungen an Steffens Aufnahmen vorgenommen zu haben. Tatsächlich konnte an der KHM jedoch zweifelsfrei festgestellt werden, dass die beiden letzten Aufnahmen von der Speicherkarte gelöscht worden waren.
Eine Gruppe von KommilitonInnen und FreundInnen Steffens arbeitet derzeit an einem Dokumentarfilm, der auf Steffens Videomaterial basiert.
In Erinnerung an Steffen Meyn hat die KHM im Jahr 2019 erstmalig die Förderung „E.R.D.E – Erbe. Respekt. Dialog. Engagement.“ ausgeschrieben, die künstlerische Projekte mit den Schwerpunkten Ökologie, Politik und Umwelt unterstützt.
Notiert von Ingo Haeb
Dieses virtuelle Kunstprojekt, editiert und programmiert von Nieves de la Fuente, besteht aus Panoramafotos und 360-Grad-Videos aus dem Archiv von Steffen Meyn, das im Jahr 2017 angelegt wurde. Steffen arbeitete im Rahmen seines Studiums an der Kunsthochschule für Medien Köln an einer filmischen Dokumentation über das Leben der Baumhausbewohner*innen im Hambacher Forst. Am 19.09.2018 verunglückte er bei den Dreharbeiten tödlich.
Die von Steffen gefilmten Bilder ermöglichen uns einen virtuellen Spaziergang durch den Hambacher Forst im Jahr 2017 und gewähren uns einen besonderen Einblick in den Konflikt zwischen RWE Energy und den Baumhausbewohner*innen, in den Prozess der Abholzung und die Organisation der Aktivist*innen während der Waldbesetzung. Die 360-Grad-Kamera – fest in Steffens Fahrradhelm verankert – war sein stiller Begleiter. Seine Perspektive auf den Wald wird so zu unserer: Wir folgen dem Blick des Künstlers und erleben und verstehen, was er im Hambacher Forst gesehen und gehört hat.
Hinweis: Die Qualität der Erfahrung hängt von der Internetverbindung und der Leistung des Computers ab. Es ist möglich, dass es während des Ladens einiger Videos zu Wartezeiten kommen kann. Bitte haben Sie etwas Geduld.
Steffen Meyn, seit 2015 Student an der KHM, ist am 19. September im Hambacher Forst tödlich verunglückt.
traurig und wütend und wach
oft denke ich, man kann ja nichts richtig machen, weil einfach die ganze welt so falsch ist. und trotzdem muss man es versuchen, zumindest diesen einen widerspruch gilt es auszuhalten, wenn man sonst schon nichts aushält. no way, dass es jemals gut sein wird auf dieser welt, da ist nichts zu machen, aber deswegen lehn ich mich doch nicht zurück. ich warte nicht ab, bis das unrecht zündet und das system von alleine einstürzt. so verdrücken sich zyniker. umso mehr ich weiss, dass die welt im eimer ist, umso mehr will ich dagegen ankämpfen. steffen hat dagegen angekämpft, unermüdlich. er hat engagement gezeigt ohne naivität, hat friedlich gefightet, ohne verbitterung, ohne hass. er war schlau und witzig und schön. er hat alles richtig gemacht und einen fehltritt.
sich einen fehltritt zu leisten sagt man, das muss man können. viele aber können sich keinen fehltritt leisten, er kommt sie teuer zu stehen oder sie bezahlen dafür mit ihrem leben. andere wiederum, wenige, können sich fehltritte leisten so viel sie wollen, denn zahlen müssen andere dafür. das ist praktisch, so geht ihnen das geld nie aus und so geht ihnen die macht nie aus. denjenigen, nach deren vorstellungen die welt eingerichtet ist, die sich einfach nehmen was sie wollen.
steffen hat sich die dinge nicht einfach genommen, sondern sich der dinge angenommen. er hat sich etwa des hambacher forsts angenommen, diese sache zu seiner sache gemacht. der konzern macht sich die welt untertan, während sich steffen die welt angeeignet hat. spielerisch und behutsam und leidenschaftlich, künstlerisch und dokumentarisch. beim hambacher forst geht es nicht nur um ein stück wald, es geht um ein grundsätzliches in der welt sein, um ein in-beziehungtreten mit dem, was uns umgibt.
engagiert sein, wie steffen, und trotzdem nicht in hysterie geraten, das ist die herausforderung. empört sein und wütend, ohne den hass das kommando übernehmen zu lassen. nicht auf leichte lösungen herein fallen und die schuldigen unter den schwächsten suchen, sondern sich mit denen anlegen, gegen die man keine chance hat. fighten. und sich auf keinen fall rausreden und sich selbst einlullen. auf keinen fall das schwache argument vorbringen: “aber uns geht es doch gut, wir können uns nicht beschweren, wir können nicht klagen.” haha und danke setzen. uns geht es nicht gut. und wir beschweren uns und wir klagen, wir klagen an. nicht trotz, sondern wegen unseres reichtums geht es uns schlecht, weil wir wissen, dass dieser unser reichtum immer auf kosten anderer geht, auf kosten ausgebeuteter menschen, ausgebeuteter tiere, gewässer und wälder und allem anderen, das sich nur irgendwie ausbeuten lässt. bleibt uns vom leib mit eurer schläfrigen zufriedenheit. wir sind traurig und wütend und wach.
aber ständig werden wir zu kompliz*innen, ordnen uns ein und unter. wir gehen einkaufen in supermärkten und modeketten, deren art zu wirtschaften uns ekelt, zahlen steuern an einen staat, den wir so nicht wollen, arbeiten für typen, die uns ausbeuten. das alles muss einem zumindest weh tun, damit man es nicht vergisst. und natürlich, viele halten diesen schmerz nicht aus. leichter ist es, mitzulaufen. abnicken, durchwinken, sich an die regeln halten.
wer gegen menschen vorgeht, die sich in 20 meter höhe befinden, auf bäumen, weiss genau, was dabei passieren kann. steffens tod war nicht gewollt, aber geduldet. er wurde in kauf genommen. er war ein unfall und ein unrecht zugleich.
“wenn wir es nicht machen würden”, so sagen die gehorsamen, “wenn wir es nicht machen würden, würde es halt jemand anderer machen.” und genau das unterscheidet sie von steffen und seinen mitstreiter*innen. denn würden sie es nicht machen, würde es eben kein anderer machen. sie sind nicht austauschbar, sie sind unersetzlich. ich selbst hätte das enorme engagement von steffen nicht aufbringen können, hätte dieser belastung nicht standgehalten. ich danke ihm und allen anderen, dass sie das, was sie tun, auch für mich tun.
“es lohnt sich nicht, weiterzukommen, wenn man sich selber dabei nicht mitnehmen darf.” (dietmar dath)
dich nehmen wir mit, lieber steffen, haben dich bei uns, in gedanken und worten und taten. rest in power!
franz-xaver franz, 24.09.2018
Sanft und Wach
Wir haben Steffen vor allem als Mitglied des Senates erfahren, von seinen anderen Aktivitäten hatten wir keine Ahnung.
Um so schockierender die Nachricht von seinem Tod, um so schmerzlicher die Lücke, die plötzlich gerissen wurde.
Sein Engagement im Senat spiegelt nur einen kleinen Ausschnitt seines bedingungslosen Einsatzes für politische und gesellschaftliche Belange: Nie nur an sich selbst denken und sich da einbringen, wo es alle angeht.
Eine Mitgliedschaft als Studierender im Senat ist gesetzlich zwar etwas Normales und trotzdem nichts Selbstverständliches.
Einer Riege von meist festangestellten Mitarbeitern gegenüber die Belange der Studierenden zu vertreten und die Geschicke der Hochschule mitzudenken, obwohl nur zeitlich begrenzt deren Angehöriger; mitzudiskutieren, obwohl die Verästelungen und Geschichten der Agenda oft zeitlich lange zurückreichen und deren Auswirkungen die eigene Studienzeit überschreiten, erfordert eine hohe Bereitschaft zu kritischer Begleitung des Betriebs und Mut, bei unklaren und unangenehmen Themen so lange zu bohren, bis sich die eingefahrenen Rädchen entzahnen und das Getriebe sich öffnet, um einen Blick auf sein eigenes Funktionieren zu werfen.
So haben wir ihn erlebt: Er hat die oft langen Sitzungen nicht nur wach mitgetragen sondern uns auch sanft insistierend und nachfragend immer wieder daran erinnert, dass die Vorgänge dort nur ein Ziel haben können: Die Hochschule zu einem besseren Platz für Alle zu machen.
Das jetzt in der Vergangeheitsform schreiben zu müssen ist sehr schmerzlich, aber dafür sind wir ihm unendlich dankbar, dafür werden wir ihn sehr vermissen.
Beate Gütschow, hans w. koch
Senatsvorsitzende, 28.10.2018
Non réconcilié
Als ich von Steffens Tod erfuhr, befand ich mich gerade in Halle, 500 Kilometer entfernt von dem Ort, an dem dieser gestorben war. Es war mir unmöglich, dieses Ereignis mit distanziertem Blick zu verfolgen, und so hatte der räumliche Abstand keine beruhigende Wirkung. Ich verfolgte hilflos und verzweifelt die Nachrichten, ohne in das Geschehen eingreifen zu können. Erst nach meiner überstürzten Abreise fand ich die Gelegenheit, einige Tage am Hambacher Forst zuzubringen.
Jede*r, die*der eine Sitzblockade durchgemacht hat, oder sich nachts an den Flutscheinwerfern und den im Wald postierten Polizeifahrzeugen vorbei geschlichen hat, kennt den Stress, den eine solche Situation verursacht. Ein Großteil dieses Stresses resultiert aus deren Kontingenz. Unvorhersehbar, ja willkürlich, erscheint die Reaktion der Agent*innen der staatlichen Repressionsorgane auf die Handlungen zivilen Ungehorsams seitens der Aktivist*innen. Auch wenn sich Steffens Sturz ohne direkte Fremdeinwirkung ereignet hat: „Unfall“ scheint mir ein Euphemismus, der den konkreten Umständen des Geschehen, deren Gewaltasymmetrie und der damit einhergehenden psychischen und emotionalen Belastung, in keiner Weise gerecht wird.
„Unfall“ und „Unglück“: Begriffe, die die Frage nach den Täter*innen ausklammern. Letzterer insbesondere erweckt den Eindruck einer unausweichlich schicksalhaften Fügung, die von den Zwangszusammenhängen zweiter Natur nichts wissen will. Nicht nur wird dadurch die gesellschaftliche Dimension des Protestes nivelliert – überdies wird Steffens politisches Engagement entwertet. Ein politischer Mensch – wie Steffen es war – hätte ein Recht gehabt, sein Ableben auch politisch gewürdigt zu wissen.
Der Trauer um Steffen mischte sich schnell Wut bei. Wut, befeuert durch die zynischen Aussagen des Innenministers Reul : Dessen Aufforderung an die Aktivist*innen, „die Gefahr, die davon [von Wald, Gelände, (Baum-)Häusern und Bäumen] ausgeht, einfach jetzt zur Kenntnis [zu] nehmen“. Als ob die Waldbewohner*innen absichtlich an Baumaterial gespart hätten, die Tatsache übergehend, dass dieses mühsam an den Einsatzkräften hatte vorbeigeschmuggelt werden müssen. Reul suggerierte dadurch, der Wald sei der vermeintliche Aggressor. An die gesellschaftlichen Bedingungen, die eine solche Konstellation erzwungen hatten, verschwendete der Innenminister keinen Gedanken.
Gelände ist der Begriff, den Reul für den Hambacher Forst verwendet. Gelände ist auch der Begriff, den Kurt Lewin verwendet, um die Phänomenologie der Kriegslandschaft zu beschreiben.
Auf Steffens Beerdigung sprach der Pastor viel von Liebe: Von Loslassen und Abschied nehmen. Von anderen Gefühlen, von der berechtigten Wut, mit der mich der vermeidbare Tod eines zu jung gestorbenen Kommilitonen immer noch erfüllt, sprach er nicht.
Ich meine von Steffen sagen zu können, dass es sein ausgeprägtes Unrechtsgefühl war, was ihn in seinem politischen Handeln antrieb. Steffen besaß in dieser Hinsicht einen sehr präzisen moralischen Kompass; und ein gründliches Missfallen gegenüber vorschneller Urteilsbildung. Er wollte stets die Perspektiven aller Beteiligten kennen und verstehen, bevor er eine Entscheidung traf. Nicht selten hat mich diese Unvoreingenommenheit genervt. Doch musste ich – nach einem Moment der Besinnung – zumeist anerkennen, dass Steffens Unbehagen berechtigt war.
Aus einem Gedicht Brechts stammt der mir unvergessliche Satz: „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge. / Auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser.“ Steffen ist von solchen Deformationen bis zuletzt auffällig frei geblieben. Die Geduld und Aufmerksamkeit, mit der er beharrlich versuchte, allen Menschen in seiner Umwelt gerecht zu werden, hat mich beindruckt. Ich werde seine nachdenkliche Unbeugsamkeit – nicht nur bei der hochschulpolitischen Arbeit – vermissen.
Jonas Hermanns, 07.10.2018