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Philipp Lachenmann "Talkin' to me?”

04. - 19. Dezember 2020 (verlängert voraussichtlich bis Ende Januar 2021)
Spor Klübü
Berlin

Philipp Lachenmann "Talkin' to me?”


04. - 19.12.2020 (verlängert voraussichtlich bis Ende Januar 2021)



 Aufgrund der SARS-CoV-2-Infektionsschutzverordnung des Landes Berlin ist der Projektraum für den Publikumsverkehr derzeit vorerst geschlossen. Die Ausstellung wird online dokumentiert.

Ausstellungsdokumentation: https://sporkluebue.de/philipp-lachenmann


„You’re talking to me? ... You talkin’ to me? ... YOU talkin’ to ME? ... Well, I’m the only one here.“ Robert De Niro in Taxi Driver, 1976


Philipp Lachenmanns Ausstellungstitel "Talkin’ to me?" bezieht sich auf eine Szene in dem prototypischen New-York-Film Taxi Driver (1976) von Martin Scorsese, in welchem Robert De Niro sein Spiegelbild − und die Betrachter*innen – mit einer klassischen Aggressionsgeste konfrontiert. Die für die Ausstellung zusammengestellten Arbeiten sind über die Jahre auf Reisen im Spannungsfeld zwischen Europa und Amerika entstanden und enthalten diverse persönliche Bezüge zu den Feldern Collective Memory/Collective Imagery, in denen sich neben historischen und kunsttheoretischen Referenzen auch politische Standpunkte reflektieren. Gezeigte Werke sind unter anderem Flags (Fabric), Statue of Liberty (Fract’al), Chandeliers (LittleBoy & FatMan), Scenic Review II (WTC) und Nuit Américaine (Black Light).


FLAGS (Fabric), 2015 Die Serie FLAGS (Fabric) besteht aus fünf großformatigen Fotografien von alten handgefertigten Fahnen, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs 1945 entstanden. Ihre vergleichsweise kleinen Originale hatte man 60 Jahre später auf dem Dachboden eines Berliner Gebäudes gefunden. Für das FLAGS-Projekt wurden diese Flaggen in jeweils sechs hoch aufgelösten Makroaufnahmen fotografiert, was die Historizität des Materials sichtbar macht. In der Ausstellung gezeigt wird die US-amerikanische Flagge, bei der den Hersteller*innen mehrere Fehler unterlaufen sind, zum Beispiel bei der Platzierung des Sternenteils der Fahne auf der rechten statt der linken Seite oder im Weglassen des Versatzes der Sternreihen.


STATUE OF LIBERTY (Fract’al) 2020 Statue of Liberty (Fract’al) besteht aus einer Reihe von Fotografien, die 2020 auf Liberty Island NYC aufgenommen wurden. In keinem der Bilder ist die gesamte Figur der Freiheitsstatue zu sehen. Vielmehr spielen die Aufnahmen mit dem Mittel der Perspektivverschiebung und dem Topos der Nähe. Die Blickwinkel erscheinen mal zu tief, zu schräg, zu steil, zu nah, um die ganze Figur erfassen zu können.


CHANDELIERS (LittleBoy & FatMan) 2004 LittleBoy & FatMan sind zwei Kristalllüster, die die berühmten historischen Atombomben „Fat Man“ und „Little Boy“ zitieren. In Anlehnung an Kronleuchter im Empirestil des späten 18. Jahrhunderts verbinden LittleBoy & FatMan ein typisch bürgerliches Statussymbol vornehmer Wohndekoration mit der klassischen Form ultimativer Zerstörungswaffen.


SCENIC REVIEW II (WTC) 1997 Die zwei Fotos wurden am späten Nachmittag des 27. Dezember 1997 jeweils von den Dächern der beiden ehemaligen Türme des World Trade Centers („Twin Towers“) aufgenommen. Der Blick ist über die Südbucht auf Staten Island, die Verrazzano-Brücke und weiter auf das Meer gerichtet − ein Doppelporträt der „Position“ des Betrachters entsteht. Die Fotografien sind mit maßgefertigten Aluminiumprofilen gerahmt, dem gleichen Material, aus dem die Fassaden der einstigen Zwillingstürme bestanden.


NUIT AMÉRICAINE (Black Light) 2012 Nuit Américaine („Amerikanische Nacht“) ist der etablierte französische Begriff für das Filmen von Sequenzen im Freien bei Tageslicht unter Verwendung von Filmmaterial, das auf Kunstlicht abgestimmt ist. Wenn dieses unterbelichtet wird, sieht alles so aus, als ob es nachts stattfände. Im Englischen wird diese Technik „day for night“ genannt. Nuit Américaine ist ausgeführt in der Handschrift des Künstlers und wurde in Schwarzlicht-Neon hergestellt.


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"Talkin‘ to me?” - Anmerkungen von Yvonne Wahl Flag (Fabric). Das Bild zeigt eine Flagge, die der US-amerikanischen ähnelt. Gefunden wurde sie neben weiteren verschiedener Nationen auf einem Berliner Dachboden. Der Ort nahe dem Brandenburger Tor und die Auswahl der Staaten legen die Vermutung nahe, dass zum Ende des Zweiten Weltkriegs dem entsprechenden Kriegsgewinner dessen Flagge vom Dach des Gebäudes präsentiert werden sollte. Das hoch aufgelöste Foto im heroischen Format zeigt schonungslos jedes Detail, lässt das offenbar in eiliger Handarbeit Entstandene linkisch und unbeholfen aussehen. Die Faszination der visualisierten Geschichte bleibt einem als Kloß im Halse stecken, wenn man realisiert, dass für die Sterne auf dem Banner wahrscheinlich Judensterne der Nazis verwendet worden sind. Ob die verkehrte Anordnung der „Stars and Stripes“ auf eine Dekonstruktion des „Mythos Amerika“ anspielt, bleibt allerdings wie vieles spekulativ.


Die Arbeit Chandeliers beinhaltet ebenfalls ein Kriegsthema. Mit der Fertigung dieser Kristalllüster in Form der ersten je eingesetzten nuklearen Waffen, der Hiroshima-/Nagasaki-Bomben „Little Boy“ und „Fat Man“, wurden Swarovski-Designer beauftragt. Meist beschäftigen sie sich mit Schmuckgestaltung, in diesem Falle nun mit der Illuminierung von Symbolen, die für Waffentechnik und Massenvernichtung stehen. Die entstandenen bourgeoisen Repräsentationsaccessoires könnte man nahe am Zynismus denken. Definitiv verbinden diese Objekte jedoch in scharfer Formulierung Macht und Sexappeal.


Nuit Américaine (Black Light) hinterfragt Entwicklung und Konkurrenz im Filmgenre. Welche Filmkultur und -industrie dominiert die Terminologie? Europa oder die USA? Eine Machtfrage.


Welche Motive und Bilder schaffen es in die Collective Memory / Collective Imagery? Die Türme des World Trade Centers in jedem Fall. Ihre Abwesenheit in den Perspektiven von jeweils einem der Tower unterstreicht die nachhaltig symbolträchtige Wirkung nach 9/11. Die Arbeit Scenic Review II (WTC) entstand 1997 durch die physische Verbindung von Gebäude und Künstler mit dem Resultat des fotografisch fixierten Blicks − unter anderem auf die Freiheitsstatue.


Der „Leuchtturm am Hafen“ mit Blick Richtung Europa: Liberty, die Freiheit, gesellschaftlich, ökonomisch, ist das Thema US-amerikanischer Identität. Die Statue verkörpert dies als ihr Symbol schlechthin. Der strahlende Kopf mit Krone und dem erhobenen, siegesgewissen Arm hält die Fackel mit dem Feuer, dessen Beherrschung als Urthema des Menschseins bezeichnet werden kann. Es macht unabhängig von den Zwängen der Nacht, die Nahrung besser verdaubar und eine unmenschliche Bewegungsgeschwindigkeit möglich, um nur einige der immanenten (Macht-)Faktoren zu nennen. Statue of Liberty (Fract'al) entzaubert diese leuchtende Macht. In der Nahperspektive werden Details deutlich, die Arbeitsspuren, die Falten, das Ungeglättete sichtbar.


Aufgewachsen in Westdeutschland als Kinder einer „brainwashed generation“, den Helga, Hanne, Hans und Helmuts, an den Guidelines von My Way und Dankbarkeit für den Marshallplan war die US-amerikanische Kultur maßgebend für die eigene Entwicklung. Trotz scheinbarer Vertrautheit blieben Kleidung, Musik, Filme doch eigenwillig abstrakt. Die Jeans war nie eine Arbeitshose, die Musik in der fremden Sprache oft schwer zu verstehen, Westernfilme sah man als Märchen und nicht als historisch fundierte genuin US-amerikanische Geschichte. Trotzdem faszinierte diese jugendliche, scheinbar unbegrenzte Freiheit. Erst die Reflexionen der Spätwestern wie The Wild Bunch (Sam Packinpah, 1969) oder The Missouri Breaks (Arthur Penn, 1976) offenbarten die Zwanghaftigkeit dieses Freiheitsbegriffs. 1976 lässt Martin Scorsese in Taxi Driver das Thema im zeitgenössischen New York spielen.


Die Szene "Talkin’ to me?" mit Robert De Niro vor dem Spiegel gehört zur Collective Imagery der Filmgeschichte. Die Pistole als Selbstbehauptungswerkzeug unterstreicht vehement die geforderte Existenzberechtigung eigener Ideen. Ein etwas extremes, aber doch typisch pubertäres Verhalten, das sich gegenüber Eltern, Verwandtschaft, Gesellschaft abgrenzen möchte. Gleicht die Beziehung zwischen den USA und Europa womöglich dem System einer Familie? Eng verbunden bewundern wir einerseits ungebremsten Mut bis hin zur Waghalsigkeit, umgekehrt wird sich auf Europa als Wiege westlicher Kultur berufen. 2003 sprach dann der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Zusammenhang der von einigen europäischen Staaten verweigerten Teilnahme am Irakkrieg abschätzig über das „Alte Europa“.


Wer ist nun der Vater? Wer der große Bruder? Die Mutterstatue? − "Talkin' to me?"


www.sporkluebue.de/

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